Der Leckerli-Hund

Erziehung - Lerntheorien - Motivation - Verdauungstrakt


Der Leckerli-Hund

 

Bei der Recherche zu diesem Text merkte ich, dass es gar nicht primär um die Frage „Leckerli ja oder nein?“ geht – obwohl diese einfache Frage in der Fachliteratur als Glaubensfrage tituliert wird – sondern es geht bei diesem Thema kurz zusammengefasst um:

Erziehung, Lernen – und darin enthalten: Motivation –  sowie physische Abläufe im Verdauungstrakt!

 

Was bedeutet „Erziehung“?

 

Erziehung und erziehen (lt.Duden von ahd. irziohan = herausziehen) bedeutet, jemandes Geist und Charakter zu bilden und seine Entwicklung zu fördern. (Stangl, 2021)/(1).

Es gibt tatsächlich Hundeschulen, die gemäss ihren Homepages bewusst die Hunde nicht erziehen möchten, sondern auf ein partnerschaftliches Miteinander von Mensch und Hund abzielen! Dies ist meiner Meinung nach nicht nur unfair gegenüber unseren Hunden, sondern schlicht gefährlich! Jeder Hund hat es verdient, erzogen zu werden, damit er sich in unserer Umwelt zurechtfinden kann und weiss, was ok ist und was nicht.

Ein Hund ist in vieler Hinsicht vergleichbar mit einem Kleinkind, für das wir die Verantwortung tragen und dessen Sicherheit und Unversehrtheit wir gewährleisten müssen. Niemandem käme es in den Sinn, einen menschlichen Dreikäsehoch an einer befahrenen Strasse nicht an die Hand zu nehmen! Kinder sind unberechenbar – Hunde sind es auch! Der Unterschied zum Kind liegt darin, dass wir Kinder bis zum Erwachsenenalter erziehen/begleiten und sie auf ein selbständiges Leben ausserhalb unserer Familie vorbereiten. Sie werden eines Tages ausziehen und ihre eigene Familie gründen. Unsere Hunde tun dies nicht, sie bleiben zeitlebens komplett von uns abhängig und sind darauf angewiesen, dass wir für sie sorgen.

 

Erziehung ist also nichts Negatives, sondern hilft dem zu erziehenden Individuum, sein Leben zu meistern. Oder mit den Worten von Jan Nijboer „Hunde erziehen mit Natural Dogmanship“ (2):

Erziehung hat das Ziel, ein Individuum auf seine Alltagsexistenz vorzubereiten. Erziehung dient der sozialen Integration und der individuellen Persönlichkeitsentwicklung.

 

Erziehung findet bewusst und unbewusst statt. Bewusste Erziehung ist z.B. das Üben des Signals „sitz“ vor dem Spaziergang: Sitz – Halsband und Leine anlegen – Tür öffnen und spazieren gehen. Unbewusste Erziehung passiert laufend, denn Achtung: doggie is watching you!

 


Lernen – Lerntheorien

 

Und damit sind wir beim Lernen angelangt, denn jeder von uns – und auch unsere Hunde – können 24 Stunden am Tag ein Leben lang lernen.

 

Lernen wird in der Psychologie definiert als eine dauerhafte (im Gegensatz zu einer vorübergehenden) Änderung des Verhaltens und von Verhaltenspotentialen, die durch Übung (im Gegensatz etwa Reifung, Prägung oder Krankheit) erfolgt. (Stangl, 2021)/(3).

 

Lernen beschreibt den Prozess zum Erwerb von Erlebens- und Verhaltensweisen, die durch

eine Interaktion mit der Umwelt zustande kommen.

 

Lerntheorien

 

Es gibt verschiedene Methoden/Formen, jemandem etwas beizubringen bzw. etwas zu lernen. Grob gesagt, können die Lernformen in zwei Kategorien eingeteilt werden:

  • Behaviorismus
  • Kognitivismus

 

Beim Behaviorismus wird das Verhalten (englisch behavior) untersucht, dazu gehören klassische Konditionierung (Reiz -> Reaktion), instrumentelle Konditionierung („try and error“: Problem -> Verhalten -> Erfolg/Misserfolg ), operante Konditionierung (positive Verstärkung/negative Verstärkung/positive Bestrafung/negative Bestrafung). Diese operante Konditionierung wird häufig/meistens in der Hundeerziehung angewendet.

 

Die Lerntheorie des Kognitivismus beziehen Kognitionen  und Emotionen mit ein, dazu gehören Lernen am Modell, Lernen durch aktive Instruktion, Lernen durch Einsicht. Als Kognition bezeichnet man die Fähigkeit, über verschiedene Wege (Wahrnehmung, Erfahrung, Gedächtnis, Sprache, Denken, Intelligenz, Glauben etc.) erhaltene Daten zu assimilieren und zu verarbeiten, um sie in Wissen umzuwandeln.  

 


Kleiner Exkurs in die Motivationstheorie

(nach Jan Nijboer und Monika Stähli 2014) (4):

 

Die 5 „B“ der Motivation (intrinsisch, von innen heraus): DER WEG IST DAS ZIEL

  • Bedürfnis: wenn ich etwas brauche, bin ich auch motiviert, dafür etwas zu tun -> Befriedigen meines Bedürfnisses
  • Begabung: wenn ich etwas besonders gut kann, darin talentiert bin, tue ich es auch gerne
  • Beziehung: gemeinsam etwas zu tun, macht Spass, ich tue es gerne, weil ich es mit dir tun kann
  • Bedeutung: Sinnhaftigkeit! (Vor allem ernsthafte Hunde legen Wert darauf!)
  • Begeisterung: Herausforderung, Spass, gutes Gefühl, etwas geschafft zu haben

 

Die 5 „B“ der Motivierung (extrinsisch, von aussen beeinflusst): 

DER ZWECK HEILIGT DIE MITTEL

  • Belohnung
  • Belobigung
  • Bestechung
  • Bedrohung
  • Bestrafung

Bei fehlender Motivation brauche ich einen Anreiz von aussen, damit ich es tue. Der Spass wird nicht grösser dadurch, nur das Ziel zählt (Belohnung oder nicht bestraft werden). Abhängigkeit vom externen Anreiz.

 

 

Und damit sind wir endlich bei den Leckerlis angelangt!



Was ist ein Leckerli?

 

Ein Leckerli ist ein KLEINES Futterstückchen, das dem Hund zur Belohnung (also ein extrinsischer Anreiz) verabreicht wird. Material, Konsistenz, Geschmacksrichtung etc. dem Gusto des Hundes angepasst.

 

Wann bekommt der Hund das Leckerli?

 

Variante 1: Aufbau eines Signals („Kommando“), z.B. „sitz“

Ich bewege meine geschlossene Hand, in der sich ein Leckerli befindet, über den Kopf meines Hundes und sage „sitz“. Setzt er sich hin, bekommt er sofort das Leckerli (und ein verbales Lob). Hier handelt es sich um die klassische Konditionierung.

 

Variante 2: Belohnen eines verlangten Signals („Kommando“), z.B. „sitz“.

Hund kennt „sitz“ und führt es auf mein verbales und/oder handzeichliches Verlangen aus. Dafür bekommt er das Leckerli.

 

Variante 3: Hund bekommt immer ein Leckerli, wenn er mich abverlangend anschaut, mich anstupst oder mich in die Hand zwickt – nein Quatsch, natürlich will das niemand, doch genau das passiert leider sehr häufig...

 

Warum bekommt der Hund das Leckerli? – Zur Belohnung!

 

Variante 1 und 2 gemäss oben: Weil er ein erwünschtes Verhalten zeigt und/oder ein verlangtes Signal ausführt. Das nennt sich positive Verstärkung, ein grosses Schlagwort in der heutigen Hundeerziehung!

 

Variante 3 (der Vollständigkeit halber): Weil er ein Leckerli will/verlangt/fordert und/oder damit er aufhört zu verlangen/fordern/zwicken/bellen...

 

Quintessenz (aus Sicht der Leckerli-Befürworter): Leckerlis werden gebraucht/verabreicht, um den Hund zu erziehen bzw. wenn/damit der Hund etwas Gewünschtes/Verlangtes lernt (Ausnahme: jeweils Variante 3...)

 

** AUSNAHME: Es gibt Situationen und Konstellationen, in denen Leckerli-Gaben in einem ersten Schritt durchaus sinnvoll sind, z.B. bei traumatisierten Hunden oder Hunden, die absolut kein Vertrauen in Menschen haben, die nie positive Erlebnisse mit Menschen hatten, die keine Beziehung zu Menschen haben etc. Hier kann es unter Umständen für den Hund hilfreich sein, wenn er für die noch so kleinste Kontaktaufnahme zum Menschen (z.B. Blickkontakt) ein Leckerli erhält. Auch sehr gestresste Hunde können ev. mittels klarem und strukturiertem Trainingsablauf, z.B. Sitz - Leckerli, warten - Leckerli, Abruf - Leckerli sowie natürlich auch hier: Blickkontakt - Leckerli etc. sich besser konzentrieren und mit Hilfe von weiteren Trainingsmassnahmen (vor allem natürlich Ruhe in die Beziehung bringen, kein Druck, keine Erwartungshaltung etc.) sich besser auf den Menschen einlassen und mittels kleinen Schritten aus ihrer "inneren Gefangenschaft befreit" werden.

In einem zweiten Schritt können diese Leckerlis sukzessive abgebaut und der Fokus auf die Bindung und ein sinnvolles Miteinander gerichtet werden.

 

Beispiel 1 aus der Praxis:

Mein Sohn spielt seit seinem Knirpsenalter Eishockey. Sein Highlight jede Woche war der Match am Samstag oder Sonntag. Endlich konnte das Geübte „in echt“ angewendet und gezeigt werden! Es galt, einen Sieg zu erspielen, und zwar mit vollem Einsatz. Ein Teammitglied meines Sohnes war auch immer ganz aufgeregt und fieberte dem Match entgegen. Seine Grosseltern sassen bei jedem Spiel im Publikum und feuerten ihren Knirpsenenkel lautstark an. Dieser gab immer 100% und mehr. Ohne Rücksicht auf Verluste in beiden Teams, versuchte er immer, so viele Tore wie möglich zu schiessen. Der Haken: Er war ein Verteidiger. Nun gehört Tore schiessen nicht unbedingt zur Kernkompetenz eines Verteidigers; doch dieser Junge bekam von seinen Grosseltern für jedes von ihm erzielte Tor einen Fünfliber, was ihn dazu brachte, rücksichtslos, egoistisch und strategisch unzumutbar zu spielen. Er brachte mit seinem Verhalten seinen Trainer und seine ganze Mannschaft gegen sich auf. Ob er noch Freude am Spiel hatte? Oder nur noch des Geldes wegen spielte?

 

Beispiel 2 aus der Praxis:

Wir bereiten eine kleine Übung vor. Der Hund wartet im „Sitz“ und beobachtet, wie sein Mensch den gefüllten Futterbeutel in einer Kartonschachtel versteckt. Die Klappen werden nicht ganz geschlossen, sind aber auch nicht offen. Der Hund ist ab und zu etwas unsicher und hat in gewissen Situationen nicht sehr viel Selbstvertrauen. Der Mensch geht zurück zum Hund. Hand fährt in die Tasche und holt ein Leckerli hervor... WARUM? Weil er so schön gewartet hat. IST DAS NÖTIG? Du hast ja soeben eine gemeinsame Übung vorbereitet... – Stimmt...! Zuerst machen wir aber ein paar Koordinationsübungen über ein paar Hindernisse auf dem Platz. Hey, cool, wie die beiden gemeinsam über die Agi-Sprünge springen und über ein Holzbänkchen balancieren! Sie haben zusammen Spass! Dann kommt die Sucheinladung mit Handzeichen in Richtung Kartonschachtel: Bring den Beutel! Der Hund rennt freudig hin, begutachtet die Schachtel, steckt einen kleinen Teil der Nase in die kleine Öffnung. Fragender Blick zum Mensch: Hilfe! Mensch motiviert verbal, probier es doch zuerst selber, wo ist der Beutel? Hund nimmt die Pfoten zu Hilfe, kippt die Schachtel um. Kriecht fast in die Öffnung, traut sich aber noch nicht, den Kopf hineinzustecken. Nochmals fragender Blick zum Menschen: Hilfe, bitte! Mensch kniet sich neben Hund und Schachtel und hält die eine Klappe so weit auf, dass sich der Hund traut, selber den Beutel aus der „bösen“ Schachtel zu retten. Wow, geschafft! Jetzt sind wir aber stolz! Und drehen ein paar ausgelassene Runden mit dem Beutel im Fang, lassen ihn in die Luft fliegen, fangen ihn wieder, schütteln ihn „tot“ und geniessen unseren Triumph! Anschliessend bringt der Hund den Beutel zu seinem Menschen, der ihn öffnet und ihm das Futter darin anbietet. Vielleicht ist auch eine Karkasse drin oder ein besonders guter Kauknochen. Es ist ganz sicher kein Leckerli drin, wozu auch?

 

Quintessenz (aus lerntheoretischer Sicht): Positives Verstärken in der Hundeerziehung mittels Leckerlis kann einen "Erfolg" (z.B. Ausführen eines konditionierten Signals/Kommandos) herbeiführen; geschieht dies aber nur wegen der Leckerli-Gabe, haben wir dem Hund nichts weiter als einen "Trick" beigebracht, ihn jedoch nicht erzogen! Vielleicht sollte sich der Mensch vor jeder Leckerli-Gabe kurz hinterfragen, ob dieses Leckerli jetzt wirklich nötig und sinnvoll ist!


Verdauung beim Hund: Ernährungsphysiologie

 

Neben der Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit von Leckerli-Gaben gibt es einen zweiten Aspekt, der nicht zu unterschätzen ist, nämlich die physiologischen Abläufe des Verdauungstraktes, die wir mit den kleinen Belohnungsstückchen in Gang setzen!

 

Drehen wir den Spiess einmal um: Wir sind geladen zu einem festlichen Dinner mit verschiedenen Buffets, die alle Speisen anbieten, die das Herz begehrt. Natürlich kommen wir hungrig. Beim Anblick all dieser Köstlichkeiten läuft uns im wahrsten Sinne des Wortes das Wasser im Mund zusammen. D.h. unser System schaltet auf Nahrungsaufnahme: Vermehrter Speichelfluss und Untermischung des Speichels mit verschiedenen Verdauungsenzymen (z.B. Ptyalin, Lipase, Amylase). Bevor wir also einen einzigen Bissen zu uns genommen haben, arbeitet unser Körper bereits an der weiteren Verarbeitung der zu erwartenden Nahrung! Das menschliche System kann jedoch sehr gut mit nur kleinen Mengen von Nahrung umgehen, da unsere Verdauung durch die Enzyme mit dem Speicheln in der Mundhöhle beginnt. Nehmen wir also nur ein paar Häppchen des festlichen Dinner-Buffets zu uns, werden wir zwar bald wieder hungrig sein, doch fürs Erste sind wir zufrieden und bekommen deswegen keine Probleme oder Schmerzen.

Anders beim Hund: Der Hund produziert Speichel ohne Enzyme, der vor allem dazu dient, die grob zerkleinerte Nahrung geschmeidig zu machen. Wenn der Hund die Nahrung schluckt, gelangt sie über die Speiseröhre in den Magen - dieser Vorgang dauert weniger als fünf Sekunden. Das Verdauungssystem unserer Hunde unterscheidet sich kaum von dem ihrer Vorfahren, der Wölfe: Es ist ganz auf das Zerlegen und Verdauen von Beutetieren abgestimmt. Im Unterschied zu Pflanzenfresser zerkleinern Hunde und Wölfe ihre Nahrung nur grob und schlingen sie stückweise hinunter - sie sind sogenannte Schlingfresser. 

Bereits beim Anblick oder wenn der Hund Nahrung riecht, beginnt die Speichelproduktion. Gleichzeitig passiert aber noch etwas anderes: Sobald der Hund Nahrung sieht oder riecht, setzt die Magensäureproduktion ein. Ist kein Futter in Sicht, wird auch keine Magensäure hergestellt. Die Magensäure hat eine Schlüsselfunktion in der Verdauung beim Hund. Im Vergleich zu uns Menschen ist die Magensäure des Hundes sehr viel aggressiver – und beinhaltet zehnmal so viel Salzsäure. In der Verdauung beim Hund ist sie dafür zuständig, die Nahrung für die Enzyme des Darms vorzubereiten und gefährliche Mikroorganismen zu töten, bevor sie in den empfindlichen Darm gelangen. Daher können unsere Vierbeiner verdorbenes Futter oder Aas zu sich nehmen, ohne dass Krankheiten oder Verdauungsprobleme auftreten. (5)

 

Was heisst das jetzt in Bezug auf Leckerli-Gaben? Der Magen des Hundes ist dauernd am Magensäure produzieren, da er Nahrung erwartet. Er bekommt aber nur ein winzig kleines Stückchen, und fertig ist. Und dann ein paar Minuten später wieder eines, und fertig ist. Das heisst, wir arbeiten komplett gegen die Natur bzw. gegen ein gesundes Verdauungssystem des Hundes, wenn wir ihn mit klitzekleinen Leckerlis „belohnen/bestechen“.

 

Belohnung: Bitte immer in "Nagergrösse"

Deshalb gibt es eine schöne Faustregel in Bezug auf Futtergabe während des Trainings/während der Arbeit mit dem Hund: Die Futterbelohnung sollte immer mindestens Nagergrösse haben, also mindestens so viel „Fleisch am Knochen“ haben, wie eine Maus! Damit nicht die ganze Maschinerie im Magen des Hundes umsonst in Gang gesetzt wird...


Verwendete Literatur
(1) Stangl, W. (2021). Stichwort: 'Erziehung – Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik'. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik.
WWW:
https://lexikon.stangl.eu/1410/erziehung (2021-07-20)

(2) Jan Nijboer „Hunde erziehen mit Natural Dogmanship“ (2012)

(3) Stangl, W. (2021). Lerntheorien der Psychologie - Was ist Lernen?. [werner stangl]s arbeitsblätter.
WWW:
https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/LERNEN/Lernen.shtml (2021-07-21).

(4) Jan Nijboer und Monika Stähli 2014, „Motivationstheorie“. Arbeitsblätter HEB-Lehrgang

(5) https://www.tackenberg.de/beratung/hund_beratung/Verdauung-beim-Hund